Wir treffen uns an einem Sonntagnachmittag im Februar im Arne-Karlsson-Park im neunten Wiener Bezirk. Von weitem erkennen wir die wartende Gruppe, bestehend aus 20 Personen. Mittendrin steht Lukas und sein Helfer, beide tragen weit sichtbar gelbe Warnwesten.
Ab in den Wiener Untergrund
Wir wollen heute in den Wiener Untergrund und haben für die nächsten 90 Minuten eine Führung gebucht bei Lukas. Lukas Arnold ist fasziniert von verlorenen Orten in Wien und von dem, was sich unter Wien verbirgt. Deshalb hat der junge Mann vor sieben Jahren mit weiteren Interessierten einen Verein gegründet, die „Interessengemeinschaft zur Erforschung und Dokumentation unterirdischer Bauten“. Der gemeinnützige Verein beschäftigt sich leidenschaftlich mit der faszinierenden Unterwelt und der reichen Geschichte Wiens. Seit über sieben Jahren widmet sich Lukas Arnold und sein Team intensiv den unterirdischen Bauwerken der Stadt. Während sich seine Altersgenossen in Clubs vergnügen, hatte er laut eigenen Aussagen immer schon ein Faible für das, was sich unter Wien verbirgt. So geht er auch ganz auf in seinem Element, die Begeisterung ist für die nächsten anderthalb Stunden fühl- und spürbar.
Zunächst gibt Lukas uns eine kleine Einführung, erklärt, dass der tiefste Keller, den wir besuchen werden, 15 Meter unter der Erde liegt und dass wir uns bei unserer Führung unter verschiedenen Häusern hin- und her bewegen werden. Es ist eisig kalt an dem Tag und alle freuen sich, als es losgeht. Da der Zugang zu den Kellern über ein privates Mietshaus erfolgt, dürfen wir nicht fotografieren und sollen beim Zutritt leise sein, so ist es mit den Eigentümern abgestimmt.
Ein Verein voller geschichtsbegeisterter Wiener gräbt tief
Die erste Kelleretage sieht relativ normal aus, Zählerkasten, Spinnenweben und ein paar unbenutzte Fahrräder. Lukas erklärt, dass er Licht dabeihat, teilt aber an die, die sich so wohler fühlen, noch Taschenlampen aus. Ich greife beherzt zu. Dann geht es über eine steile Stiege immer weiter hinab, bis wir in einem Gewölbekeller stehen, der Boden ist nur gestampft. Wände und Decken bestehen aus gebrannten Ziegelsteinen.
Die Größe ist gigantisch. Der Keller ist rund 20 Meter lang, fünf Meer breit und sechs Meter hoch. An der Decke befinden sich etliche Lüftungskanäle, die den Keller mit Frischluft versorgen. Eine Stahlleiter dient als Notausstieg in das darüber liegende Geschoss. In einem extra Raum befinden sich noch die nach Frauen und Männern getrennten WC-Abteile aus der Zeit des Zweiten Weltkriegs, als der Keller als Luftschutzkeller diente. Auch die Blecheimer stehen noch da. Kanalisation gab es nicht, nach Gebrauch der Eimer wurde Sägespäne oder Stroh darüber geschüttet. Man weiß nicht mehr genau, wie viele Menschen den Keller als Zuflucht vor Bomben im Zweiten Weltkrieg nutzten, es dürfen aber hunderte gewesen sein. Vor dem Zweiten Weltkrieg war der Keller als Lagerraum benutzt worden, da hier die Temperaturen über das Jahr hinweg konstant knapp über zehn Grad Celsius liegen. Spannend ist, dass von dem Keller aus diverse Verbindungsgänge zu den Kelleranlagen der benachbarten Häuser bestehen, die zum Teil verschüttet sind. Man kann sich die Größe eines großstädtischen Untergrundlebens gut vorstellen.
Einen Hinweis gibt Lukas hier auch auf das Leben im Wiener Untergrund, welches mit Errichtung der Wiener Kanalisation Ende des 19. Jahrhunderts begann, zur Zuflucht für Arbeits- und Obdachlose zu werden. Stellen- und Obdachlose verbrachten einen großen Teil ihrer Tage mit dem Herausfischen von Gegenständen aus den Abwässern, dem so genannten „Strotten“. Einige Strotter – aber auch mehrere Obdachlose – lebten in der Kanalisation, wo sie in manchen Gängen, Kammern und Luftschächten Möglichkeiten zum „Wohnen“ vorfanden. Die Zahl der Strotter und Obdachlosen nahm erst ab, als 1934 die „Kanalbrigade“ gegründet wurde, die gegen kriminelle Banden und gegen Vagabunden härter vorgehen sollte. Das zeigt hier auch ein großes Schwarzweißfoto aus dem bekannten Film "Der dritte Mann", auf dem die sogenannte Kanalbrigade abgebildet ist.
Lukas erzählt, dass sein Team aus geschichtsbegeisterten Wienerinnen und Wienern besteht, die mehr über ihre eigene Stadtgeschichte erfahren möchten und dieses Wissen gerne mit der Bevölkerung teilen. Hierzu wird in Archiven gestöbert und historische Zeitungen durchkämt. So erschließen sich einzelne Puzzleteile, wo sich ein interessanter Keller befinden kann und seit wann es ihn möglicherweise gibt.
Der Keller, in dem wir uns befinden, war im hinteren Teil verschüttet, auch hier versucht Lukas herauszufinden, wann und warum das geschehen ist. Der vordere Teil des Kellers stammt aus dem 19. Jahrhundert. Ziel des Vereins ist, so viele Anlagen wie möglich zu dokumentieren und zu schützen, bevor sie umgebaut oder abgerissen werden. Darüber hinaus versucht das Team, die Anlagen behutsam instand zu halten. Man kann sich nur schwer vorstellen, wie viel Arbeit es war, den Keller, in dem wir nun stehen, einigermaßen begehbar zu machen.
Geschichten von Zeitzeugen machen Geschichte lebendig
Einen großen Teil der Führung nimmt das Thema Zweiter Weltkrieg in Anspruch. Ich kenne die Thematik aus meiner Familie. Meine Großmutter hat einen Großteil des Krieges in Berlin gelebt und ich bin mit ihren Geschichten über die Bombenangriffe und Zeiten in den Schutzbunkern quasi aufgewachsen. Deshalb ist mir auch nicht ganz wohl hier unten, mir kommt das, was Lukas erzählt, sehr vertraut vor. Es ist wichtig, darüber zu berichten, erklärt Lukas seinen Enthusiasmus. Mit einem "Zeitzeugen Projekt" sucht der Verein Damen und Herren im Alter von 85-97 Jahren auf, um mit ihnen zu sprechen und von ihnen persönliche Erlebnisse und Geschichten aus dem Zweiten Weltkrieg zu erfahren. Wenige Monate vor unserem Besichtigungstermin war eine Zeitzeugin gestorben. Lukas hatte sie kurz davor noch interviewt. Das Interview durfte er aufzeichnen, er spielt einen Teil daraus auf einem Tablet ab. Wir stehen etwa da, wo die Dame, damals 15-jährig, mit ihrer Mutter gestanden haben muss. Was sie in der Aufnahme erzählt, ist so eindrücklich erschütternd, dass sich keiner der Besucher dem entziehen kann. Denn der Keller wurde bei einem der Bombenalarme von Wasser geflutet, das Wasser stieg langsam hoch, nicht alle überlebten diese Katastrophe in der Katastrophe.
Die Keller sind nichts für schwache Nerven
Das Bild, das wir bei der Führung an diesem Nachmittag vermittelt bekommen, ist vielschichtig. Es ist nichts für schwache Nerven oder zarte Gemüter. Das sei hier gleich vorweggenommen. Aber man darf an einigen der Puzzleteilen, die Lukas und der Verein in mühevoller Kleinarbeit zusammengesammelt hat, teilhaben. Die Geschichte reicht zurück bis zu der Zeit, als Wien von den Türken belagert worden war und man in bereits damals bestehenden Kellern Fässer aufgestellt und darauf trockene Linsen gelegt hatte. Diese List diente dazu, zu erkennen, wann die Türken sich in der Nähe befanden, denn die Linsen begannen dann aufgrund der durch die Schritte vieler Menschen hervorgerufenen Erschütterungen zu hüpfen.
Wer mehr über „Verfallene Orte in Wien“ wissen möchte, kann das Buch von Lukas Arnold und Marcello La Speranza erwerben. Auf dem Foto (Fotografie: Alexandra Freund-Gobs) ist Lukas Arnold mit dem Buch abgebildet.
Wer Interesse hat an einer Tour durch Wiens Untergrund, wird hier fündig: https://www.unterwien.at/